Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Der natürliche Wirkungskreis

Der Mensch als Naturerscheinung

Als Naturerscheinung unter anderen löst jeder Mensch mit Notwendigkeit spezifische Wirkungen aus, im qualitativen wie im quantitativen Verstande. Dass dem so ist, erweist die eine Erfahrung, dass seine wahre Wirklichkeit unter allen Umständen, trotz aller Absicht und Vorspiegelung, über die dauernde Wirkung entscheidet. Jeder ist tatsächlich, was er unwillkürlich ist; jeder vermag nur, was er unwillkürlich kann; jeder wirkt unwillkürlich seiner faktischen Eigenart gemäß. Nur insofern dies so ist, gilt der Satz, dass die Weltgeschichte das Weltgericht sei1. Hierauf allein beruht die Beweiskraft des Erfolges, so weit sie reicht, sowie die Sinngemäßheit des Glaubens an das gerechte Urteil der Nachwelt. Diese ist durchaus nicht einsichtsvoller an sich als die jeweilige Mitwelt, aber insofern sich kurzlebige Kausalreihen, wie Missgunst, persönliche Feindschaft, Konjunktur- und Inflationsgewinne im weitesten Verstand amortisiert und dauernde Wirkungen manifestiert haben, denen sich alsdann die Vorstellung aus Selbsterhaltungstrieb der Lebenden anpasst, vermag die Nachwelt tatsächlich besser als die jeweilige Mitwelt von der Wirkung auf die Wirklichkeit zu schließen. Denn die tiefere Wirkung betrifft zunächst allemal das Unbewusste, nicht das Bewusstsein, als welches ihm Ungemäßes oder -genehmes instinkthaft abweist; nicht zwar das Unbewusste im Gegensatz zum Bewussten oder als mystische Wesenheit, sondern ganz nüchtern als die Gesamtheit der psychischen Wirklichkeit verstanden, von der allemal nur ein geringer Teil bewusst wird.

Die Verzögerung der eigentlichen Wirkung und ihrer Erkenntnis wird weiter dadurch bedingt, dass der Mensch nicht als fertiges Wesen in die Erscheinung tritt, sondern aus einem Keim erwächst, und dies in Wechselwirkung mit seiner Umwelt, weshalb nicht nur sein Schicksal, sondern sogar sein Sosein von dieser mit abhängt. Nichtsdestoweniger lebt die Entelechie, d. h. der Naturfaktor, welchen der Mensch als Organismus eigentlich darstellt, schlechthin aus eigenem Recht. Sein Wesen war allemal schon im Keime voll enthalten, weswegen Endschicksal und Endgestalt allein von dessen Charakter abhängen. Ebendeshalb erlebt ein Organismus von vornherein, gemäß Uexküll, nicht die gesamte vorhandene Umwelt, sondern nur seine Merkwelt; eben insofern beschwört der Mensch recht eigentlich sein Schicksal, denn aus der Unzahl möglicher Zufälle wählt er die selbsttätig aus, die für ihn bedeutsam werden können, weil sie ihm entsprechen. Nun, weil dem also ist, ändert die Tatsache erforderlichen Wachstums (oder auf dem Gebiet sozialer Geltung erforderlichen Sieges) am Grund-Tatbestande nichts. Wer nicht erkannt, nicht anerkannt ist, wessen Auswirkung eigene Hemmungen behindern, oder überstarke Routine und Tradition in seinem Lebenskreis, der setzt sich freilich nicht durch: er tut es jedoch zwangsläufig, wo sein inneres Gesetz dies verlangt, sobald obige Hemmungen fortfallen. Dies ist ein unmittelbarer Beweis des Satzes, dass der Mensch letztlich aus eigenem Rechte lebt. Und Gleiches gilt von der Erfahrung, dass der sichtbare Mensch proportional der Gemäßheit seines Lebensrahmens verkümmert oder wächst, und dass er überall, wo das Leben gut organisiert ist, schicksalsmäßig zu der ihm entsprechenden Stellung auf- und abrückt.

Aus dem Ausgeführten, so kurz ich mich fassen musste, geht wohl schon hervor, inwiefern der Mensch tatsächlich als Naturerscheinung beurteilt werden kann und muss: aus seinem Sosein ergibt sich zwangsläufig spezifische Wirkung. Dies nun ergibt weiter für jedermann das Bestehen eines natürlichen Wirkungskreises, der nach Weite sowohl als Spezifität der jeweiligen Eigenart genau entspricht. Womit wir denn beim bestimmten Gegenstande dieser Betrachtung angelangt wären.

1 Vgl. die genauere Ausführung dieses Gedankens im Kapitel Schopenhauer als Verbilder von Menschen als Sinnbilder.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Der natürliche Wirkungskreis
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